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Zusammenfassung: Das Verwaltungsgericht Berlin hat am 4. Juli 2003 beschlossen, daß die Fuckparade 2003 die Kriterien einer politischen Demonstration erfüllt.

VG 1 A 196.01

Verwaltungsgericht Berlin
Beschluss

In der Verwaltungsstreitsache des Herrn Thomas Rupp, Antragsteller,

Verfahrensbevollmächtigte:
Rechtsanwältin Inka Bock, […] Frankfurt am Main

gegen

das Land Berlin, vertreten durch den Polizeipräsidenten in Berlin, Stab PPr, Stab 4, Platz der Luftbrücke 6, 12096 Berlin, Antragsgegner,

hat die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin durch

  • den Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichts Dr. Rueß,
  • den Richter am Verwaltungsgericht Groscurth sowie
  • die Richterin am Verwaltungsgericht Sanchez de la Cerda

am 4. Juli 2003 beschlossen:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 3. Juli 2003 gegen den Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 30. Juni 2003 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf € 4.000,— festgesetzt.

Gründe

Mit Schreiben vom 17. Juni 2003, modifiziert durch ein weiteres Schreiben vom 2. Juli 2003, meldete der Antragsteller bei dem Polizeipräsidenten in Berlin für den 5. Juli 2003 die „Fuckparade 2003“ an. Die Veranstaltung zu den Themen „Stadtentwicklung und die Privatisierung des öffentlichen Raums“ sowie „Versammlungsfreiheit und die Rolle der Kunst- und Musikszene“ soll um 14.30 Uhr mit einer Auftaktkundgebung mit verschiedenen Redebeiträgen beginnen und um 19.30 Uhr in der Albrechtstraße im Bezirk Mitte mit einer Kundgebung enden. Den Aufzug sollen sechs Wagen, von denen Musik gespielt wird, und weitere Wagen, von denen aus Flyer verteilt werden, begleiten.

Mit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 30. Juni 2003 erklärte der Polizeipräsident in Berlin, das erste Schreiben des Antragstellers nicht als Anmeldung einer Versammlung handele, sondern sie im Wesentlichen durch ihren „Musik- und Straßenfestcharakter“ geprägt werde. Auch auf die modifizierte Versammlungsanmeldung änderte der Polizeipräsident in Berlin seine Auffassung nicht.

Das Begehren des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid des Polizeipräsidenten in Berlin vom 30. Juni 2003 wiederherzustellen, hilfsweise den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die „Fuckparade 2003“ nach dem Versammlungsgesetz zu behandeln, hat im Hauptantrag Erfolg.

Da es dem Antragsteller im Ergebnis um die Abwehr eines belastenden Verwaltungsakts geht, kommt allein ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – in Betracht, weil dieser gegenüber dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vorrangig ist (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO). Die Ablehnung der Versammlungsbestätigung ist als belastende Regelung des Inhalts anzusehen, dass für die vom Antragsteller geplante Veranstaltung die versammlungsrechtliche Privilegierung nicht gilt und insoweit die Regeln und Zuständigkeiten des allgemeinen Ordnungsrechts zu beachten sind (vgl. Beschluss der Kammer vom 5. Juli 1999, VG 1 A 225.99, Entscheidungsabdruck, S. 7).

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Polizeipräsidenten vom 30. Juni 2003 wiederherzustellen, ist begründet. Das Interesse des Antragstellers an der Suspendierung des genannten Bescheides überwiegt das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Denn nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung bestehen gegen die Rechtmäßigkeit des Bescheides durchgreifende Bedenken.

Dabei kann offen bleiben, ob der in Rede stehende Bescheid bereits deshalb rechtswidrig ist, weil es für die Feststellung, die Anmeldeschreiben des Antragstellers nicht als Anmeldung entgegennehmen und bestätigen zu können, keine hinreichende Rechtsgrundlage gibt. Es ist im hiesigen vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, diese – trotz der in diese Richtung gehenden bisherigen Kammerrechtsprechung einer eingehenden Prüfung zu unterziehende – Frage abschließend zu beantworten.

Dies ist jedoch vorliegend unerheblich, weil der angefochtene Bescheid jedenfalls zu Unrecht davon ausgeht, dass es sich bei der „Fuckparade 2003“ nicht um eine Versammlung handelt.

Versammlungen im Sinne des Art. 8 GG sind nach dem sog. erweiterten Versammlungsbegriff örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats vom 12. Juli 2001, 1 BvQ 28/01 und 1 BvQ 30/01, Entscheidungsabdruck S. 8). Das Bundesverfassungsgericht hat in der vorgenannten Entscheidung zur „Fuckparade 2001“ ausgeführt, dass Versammlungen auch dann in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen, wenn sie ihre kommunikativen Zwecke unter Einsatz von Musik und Tanz verwirklichen, was zu bejahen sei, wenn diese Mittel zur kommunikativen Entfaltung mit dem Ziel eingesetzt werden, auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken. Von der Versammlungsfreiheit seien solche Veranstaltungen auch dann erfasst, wenn sie sich zum Beispiel dafür einsetzten, dass bestimmte Musik- und Tanzveranstaltungen auch in Zukunft ermöglicht würden (BVerfG, a.a.O., S. 9). Volksfeste und Vergnügungsveranstaltungen fielen dagegen ebenso wenig unter den Versammlungsbegriff wie Veranstaltungen, die der bloßen Zurschaustellung eines Lebensgefühls dienten oder die als eine auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtete öffentliche Massenparty gedacht seien. Da eine Musik- und Tanzveranstaltung jedoch nicht allein dadurch insgesamt zu einer Versammlung im Sinne des Art. 8 GG werde, dass bei ihrer Gelegenheit auch Meinungskundgaben erfolgen, sei es nicht zu beanstanden, die rechtliche Beurteilung danach zu richten, ob die Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung sei oder ob der Spaß-, Tanz- oder Unterhaltungszweck im Vordergrund stehe. Blieben Zweifel, so bewirke der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung behandelt werde (BVerfG, a.a.O., Entscheidungsabdruck S. 11).

Die vom Antragsteller angemeldete „Fuckparade 2003“ trägt nach Auffassung der erkennenden Kammer das Gesamtgepräge einer Versammlung und stellt sich nicht als bloße Tanzveranstaltung oder Massenparty dar.

Zwar kann die erforderliche Meinungsäußerung nicht bereits in dem Abspielen der Musik und dem Tanz der Versammlungsteilnehmer gesehen werden. Entscheidend ist jedoch, dass die Themen der „Fuckparade 2003“ in Redebeiträgen während der Auftakt- und der Abschlusskundgebung deutlich gemacht und zudem während des Aufzugs aus Handzetteln verbreitet werden sollen. Auf diesen Flyern werden ähnlich wie bereits im Jahr 2001 die Anliegen des Veranstalters relativ ausführlich und für jedermann verständlich wiedergegeben. So wendet sich die Veranstaltung gegen die Behinderung einer selbständigen Ausdrucksform, die fortschreitende Privatisierung des öffentlichen Raums im Zuge der globalen Kommerzialisierung, die Einengung des Demonstrationsrechts und fordert das Recht auf Nutzung des öffentlichen Raums und selbstbestimmtes Leben; das Ende der Ausgrenzung und Kriminalisierung kultureller Minderheiten und das Recht auf freie Meinungsäußerung mit Hilfe der Musik.

Hierbei handelt es sich nicht nur um sinnentleerte Schlagworte, sondern um nachvollziehbare, inhaltlich näher begründete Anliegen, die der Antragsteller verfolgt. Eine inhaltliche Bewertung der Versammlungsthemen kommt in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Anhaltspunkte dafür, dass die formulierten Anliegen nur vorgeschoben sind, um der „Fuckparade“ den Charakter einer Versammlung zu verleihen, ohne dass es den Veranstaltern eigentlich um die Vermittlung bestimmter Ansichten ginge, sind nicht erkennbar. Die Anliegen des Veranstalters der „Fuckparade“ werden in dieser oder ähnlicher Form bereits seit mehreren Jahren unverändert vertreten. Außerdem thematisiert der Antragsteller gerade die Frage, ob die „Fuckparade“ eine genehmigungsfreie Versammlung ist, und will dies zum Gegenstand einer kollektiven Meinungsäußerung machen.

Der Umstand, dass die auf der „Fuckparade 2002“ gehaltenen Reden nicht den nach der Versammlungsanmeldung zu erwartenden Umfang hatten und dass bei dem Aufzug nur wenige Transparente gezeigt wurden, spricht nicht gegen die Qualifizierung der „Fuckparade 2003“ als Versammlung. Für die diesjährige Veranstaltung wurden zahlreiche Redner benannt, und es kann in Ermangelung genügender Hinweise nicht von vornherein unterstellt werden, dass Reden tatsächlich nicht oder nur in zu vernachlässigendem Umfang gehalten werden sollen. Im Übrigen können nach Auffassung der Kammer auch Sprechgesänge dazu geeignet sein, Meinungen kundzutun. Ausweislich des vom Antragsteller übersandten Videobands, das auszugsweise den Ablauf der „Fuckparade 2002“ wiedergibt, wurden jedenfalls zu Beginn der Veranstaltung die auf den damals verteilten Flyern abgedruckten Aussagen verlautbart. Auch der sich an die Auftaktkundgebung anschließende Aufzug bestand nicht allein aus tanzenden Teilnehmern, sondern zum großen Teil aus jungen Menschen, die den Musikwagen gehend folgten. Auch wenn die Reden auf der damaligen Abschlusskundgebung nur von kurzer Dauer gewesen sein sollten, kann dies angesichts der ansonsten deutlich ins Gewicht gefallenen Elemente der Meinungsäußerung an der Qualifizierung als Versammlung nichts ändern. Dies hat daher auch keinen Einfluss auf den Versammlungsstatus der „Fuckparade 2003“.

Dieser Einschätzung steht auch nicht entgegen, dass im Rahmen des Aufzugs im Jahre 2002 nur wenige Transparente mitgeführt wurden. Es ist nicht erforderlich, dass die Versammlungsteilnehmer eine Vielzahl von Plakaten mit sich führen. Maßgebend ist vielmehr, dass im Zuge der Veranstaltung für Außenstehende erkennbar eine bestimmte Meinung geäußert wird und dieses Element der Meinungskundgabe dem unterhaltenden Moment zumindest gleichbedeutend ist. Wird eine bestimmte Auffassung – wie im vorliegenden Fall – durch das Verteilen von Flyern oder durch Redebeiträge kundgetan, ist diese Voraussetzung erfüllt. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass auf der nunmehr geplanten Veranstaltung die angekündigten Elemente der Meinungsäußerung nicht zu verzeichnen sein werden, sind bei summarischer Prüfung nicht erkennbar. Außerdem wurden die Versammlungsteilnehmer auf dem dem Gericht vorliegenden Flyern ausdrücklich zum Mitbringen von Transparenten aufgefordert.

Soweit – wie hier – Musik und Tanz zur Unterstützung der Versammlungsthemen als spezifische Ausdrucksformen eingesetzt werden, ist dies für die Beurteilung als Versammlung unschädlich. Denn Veranstaltungen sind – wie oben bereits erwähnt – nicht auf Zusammenkünfte traditioneller Art beschränkt und können sich verschiedenster Ausdrucksformen bedienen, solange nur die erforderliche Meinungsbildung oder Meinungskundgabe gleichgewichtig ist. Dies ist vorliegend – wie aufgezeigt – der Fall, zumal lediglich sechs Musikwagen mitgeführt werden sollen.

Der Qualifizierung der „Fuckparade 2003“ als Versammlung kann schließlich nicht entgegengehalten werden, dass es einem Teil der Versammlungsteilnehmer möglicherweise nicht auf die Kundgabe bestimmter Meinungsinhalte ankommt. Solange der Veranstalter und ein nicht unerheblicher Anteil der Teilnehmer die Kundgabe bestimmter Meinungen bezweckt, kann es nicht zu deren Lasten gehen, wenn sich der Versammlung auch Personen anschließen, die diesen Zweck nicht vor Augen haben. Rein tatsächlich ist es gerade bei Großveranstaltungen unmöglich zu gewährleisten, dass sämtliche oder ein Großteil der Teilnehmer dieselbe Meinungskundgabe bezwecken.

Selbst wenn angesichts der obigen Ausführungen Zweifel an der Qualifizierung der „Fuckparade 2003“ verblieben, müsste sie nach den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts angesichts des hohen Rangs der Versammlungsfreiheit als Versammlung behandelt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG.

Rechtsmittelbelehrung

[…]

Rueß, Groscurth, Sanchez de la Cerda