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Zusammenfassung: Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten spricht den Anmelder der Fuckparade am 7. Mai 2003 frei, bei der Demonstration im Jahre 2002 gegen Auflagen der Versammlungsbehörde verstoßen zu haben.

AG 254 Cs 4/03

Amtsgericht Tiergarten
Im Namen des Volkes

Rechtskräftig seit dem 07.05.2003.
Berlin, den 02. Juni 2003

Strafsache gegen Martin Kliehm […] wegen Vergehens gegen das Versammlungsgesetz

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat in der Sitzung vom 29. April 2003 […] für Recht erkannt:

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse Berlin.

Gründe:

Dem Angeklagten wurde durch den Strafbefehl vom 16.01.2003 ein Vergehen gegen § 25 Nr. 1 und 2 Versammlungsgesetz zur Last gelegt.

Er soll in Berlin durch dieselbe Handlung

  1. als Leiter einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel oder eines Aufzuges die Versammlung oder den Aufzug wesentlich anders durchgeführt haben, als die Veranstalter bei der Anmeldung angegeben hatten,
  2. als Leiter einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel oder eines Aufzuges Auflagen nach § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz nicht nachgekommen sein.

Der Angeklagte sollte in den Abendstunden des oben genannten Tages als Leiter die sog.Fuckparade“ in Berlin-Mitte durchgeführt haben. Gemäß seiner Anmeldung vom 01.06.2002 und der Ergänzung der Rechtsanwältin Inka Bock vom 10.07.2002 sollten dabei elf reine Redebeiträge ohne Musikunterlagen stattfinden. Die Auftaktkundgebung war mit 60 bis 70 Minuten veranschlagt, die Schlußkundgebung mit 40 bis 50 Minuten. Durch Bescheid vom 11.07.2002 genehmigte der Polizeipräsident in Berlin, Landeskriminalamt, Ref. ordnungsbehördlicher Staatsschutz, die Versammlung unter anderem unter den Auflagen, daß die Verstärkeranlagen von einer nach § 26 Bundesemmissionsschutzgesetz zugelassenen Meßstelle derart einzupegeln und zu begrenzen sind, daß der Emmissionswert von 85 dB (A) in 10 m Entfernung nicht überschritten wird. Die entsprechend eingemessenen Anlagen durften nach der Einpegelung nur noch in diesem Zustand benutzt werden. Ausdrücklich untersagt wurde der Verkauf bzw. Ausschank von alkoholischen Getränken im Vorfeld und während der laufenden Versammlung.

Tatsächlich sollten die Redezeiten während der Auftaktkundgebung lediglich 36 Minuten betragen haben. Eine Abschlußkundgebung, wie im Schreiben der Rechtsanwältin Bock angegeben, sollte überhaupt nicht stattgefunden haben. Es sollte lediglich zu einem etwa 5-minütigen Redebeitrag gekommen sein, währenddessen ununterbrochen Musik abgestrahlt worden sein sollte. Während der Versammlung sollte zum Teil exzessiv Alkohol konsumiert worden sein. Am Hackeschen Markt sollte eine verdeckte Schallpegelmessung ergeben haben, daß der Wagen 2 den zulässigen Pegel von 85 dB (A) in 10 m Entfernung um 5 dB (A) überschritt. Im Bereich zwischen dem Alexanderplatz – Forum Hotel – und der Grunerstraße sollte eine weitere verdeckte Schallpegelmessung ergeben haben, daß der dritte Wagen den zulässigen Pegel von 85 dB (A) in 10 m Entfernung um 10 dB (A) überschritten habe.

Die Hauptverhandlung hat zu folgenden Feststellungen geführt:

Unter dem 01.06.2002 meldete der Angeklagte eine Demonstration unter der Bezeichnung „Fuckparade“ beim Polizeipräsidenten in Berlin – Versammlungsbehörde – an. Er meldete diese Demonstration für Samstag, den 13.07.2002 an. Nachdem dem Angeklagten durch Schreiben des Polizeipräsidenten vom 19.06.2002 mitgeteilt wurde, daß sein Schreiben vom 01.06.2002 nicht als Anmeldung einer Versammlung nach § 14 Abs. 1 Versammlungsgesetz entgegengenommen und bestätigt werden könne, reichte die Rechtsanwältin Inka Bock aus Frankfurt / Main mit Schreiben vom 10.07.2002 an den Polizeipräsidenten in Berlin für den Angeklagten unter Bezugnahme auf eine telefonische Absprache eine Rednerliste ein, wonach elf Redner ihren Auftritt zugesagt hatten, wobei es sich um [r]eine Redebeiträge handeln sollte, die ohne Musikunterlagen sein sollten. Es wurde weiter ausgeführt, die Versammlung finde von 15.00 bis 20.00 Uhr statt, es seien eine Auf[takt]kundgebung und eine Schlußkundgebung geplant, die Auftaktkundgebung sei mit 60 bis 70 Minuten veranschlagt, die Schlußkundgebung mit 40 bis 50 Minuten. Da der Veranstalter keinen Einfluß auf die Länge der einzelnen Reden nehmen könne, noch von den Rednern verlangt werden könne, eine exakte Länge der Reden anzugeben, sei eine generelle Länge der Kundgebung angegeben und die eventuelle Zwischenkundgebung sei geplant. In der weiteren Folge werden die Wegstrecke beschrieben, und es wird ausgeführt, daß drei teilnehmende Musikwagen mit Anlagen, von denen Musik gespielt werden kann, vorgesehen seien. An den Wagen sollten Transparente befestigt werden, die die Forderungen der Fuckparade 2002 widerspiegeln. Es werde von 2000 Teilnehmern ausgegangen, es werden 30 Ordner zur Verfügung gestellt.

Mit Schreiben vom 11.07.2002 teilte der Polizeipräsident dem Angeklagten mit, daß nach Prüfung der Sach- und Rechtslage die Durchführung der genannten Versammlung gemäß § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz von der Einhaltung folgender Auflagen abhängig gemacht werde:

Die Verstärkeranlagen seien von einer nach § 26 Bundesemmissionsschutzgesetz zugelassenen Meßstelle derart einzupegeln und zu begrenzen, daß der Emmissionswert 85 dB (A) in 10 m Entfernung nicht überschreitet. Kurzzeitige Geräuschspitzen dürfen diesen Wert um nicht mehr als 30 dB (A) überschreiten. Die Anlagen seien mit entsprechenden Limitern zu versehen. Die eingemessenen Anlagen dürften nach der Einpegelung nur noch in diesem Zustand betrieben werden. Die im Anschluß an die Einpegelung angebrachte Versiegelung darf nicht beschädigt werden.

Ausdrücklich untersagt wird der Verkauf bzw. Ausschank von alkoholischen Getränken im Vorfeld und während der laufenden Versammlung. Die Entscheidung wurde im folgenden begründet.

Die Veranstaltung des Angeklagten wurde am 13.07.2002 wie angemeldet durchgeführt. Nach dem Polizeibericht fanden sich um 14.59 Uhr am Antreteplatz etwa 250 Personen ein. Es erfolgte ein weiterer Zustrom, so daß gegen 15.26 Uhr 500 bis 600 Personen anwesend waren. Um 15.27 Uhr begann die Auftaktveranstaltung. Um 16.09 Uhr setzte sich der Aufzug in Bewegung, gegen 19.14 Uhr erreichte der Aufzug mit etwa 400 Personen den Endplatz. Um 20.05 Uhr war die Veranstaltung am Endplatz beendet.

Im Verlauf des Aufzuges hatte der damit beauftragte Zeuge F. 50 bis 70 Messungen der Lautstärke durchgeführt. Am Hackeschen Markt ergab eine verdeckte Schallpegelmessung, daß der Wagen 2 den zulässigen Pegel von 85 dB (A) in 10 m Entfernung um 5 dB überschritt. Im Bereich zwischen Alexanderplatz und Grunerstraße ergab eine weitere Messung, daß der dritte Wagen den Pegel von 85 dB (A) in 10 m Entfernung um 10 dB überschritt. Die Messung hatte 9 Sekunden gedauert.

Teilnehmer des Aufzuges hatten sich alkoholische Getränke mitgebracht oder erwarben diese im Verlaufe des Aufzuges aus Geschäften am Wegrand. Der Alkohol wurde auch konsumiert. Von Seiten des Angeklagten als Veranstalter wurde jedoch kein Alkohol ausgeschenkt.

Von den angemeldeten Rednern hatten drei Redner abgesagt. Die weiteren Redner hatten ihre Reden gehalten. Zur Auftaktkundgebung wurde etwa 36 Minuten geredet, auch zum Abschluß fand eine Redekundgebung statt.

Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung zur Sache keine Angaben gemacht. Er hat lediglich durch seinen Verteidiger erklärt, daß die Tatvorwürfe nicht zutreffen.

Der Zeuge F. hat bekundet, er sei von der Polizeibehörde gebeten worden, die Anlagen auf den Fahrzeugen [ein]zupegeln und zu blockieren. Dies habe er auch getan. Es habe sich um drei Wagen gehandelt mit je einer Anlage. Auf dem ersten Wagen habe sich ein sogenannter Limiter befunden, beim zweiten und dritten Wagen habe er die Anlagen durch Siegelung blockiert. Die Siegel seien mit Strichen versehen worden, so daß eine Verschiebung oder Veränderung nicht möglich gewesen sein, ohne aufzufallen. Er sei dann mit dem Zug mitgelaufen und habe fortwährend Schallmessungen vorgenommen. Die Messung habe er im Abstand von 10 m vornehmen sollen, der Abstand habe jedoch gewechselt. Durch den wechselnden Abstand könne es sein, daß sich kleinere Differenzen von 2 bis 3 dB ergeben. Mit 5 dB sei jedoch nicht zu rechnen. An zwei Stellen sei festgestellt worden, daß der Richtwert überschritten worden sei. Die jeweiligen DJs von den Wagen seien heruntergeholt und ermahnt worden. Danach hätten sie dieses Verhalten nicht wiederholt. Die im Bescheid erlaubten Spitzen von 30 dB seien an keiner Stelle erreicht worden. Die Entfernung, die er einhalten sollte zur Messung habe er jeweils geschätzt.

Der Zeuge G. hat bekundet, er habe den Vorgang nur aktenmäßig bearbeitet und sei nicht vor Ort gewesen. Er habe die Akten auf eine Strafbarkeit prüfen sollen.

Der Zeuge H. hat bekundet, er bzw. seine Behörde, habe die Versammlungsanmeldung bereits seit einigen Jahren bearbeitet. Man habe nach der Prüfung der bisherigen Auffassung nunmehr verweigert, die Veranstaltung als „Versammlung“ anzusehen. Die Sache sei verwaltungsgerichtlich geklärt worden und auch vom Bundesverfassungsgericht. Das Bundesverfassungsgericht habe die Ansicht der Behörde bestätigt, und da die Anmeldung für das Jahr 2002 sich von den früheren nicht unterschieden habe, habe man sie ablehnen wollen. Das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, daß diese Veranstaltung in der bisherigen Form keine Versammlung darstelle. Entscheidend sei der Eindruck, den die Veranstaltung auf unbeteiligte Bürger habe. Es müsse eine Meinungskundgabe stattfinden. Dies sei bei früheren Veranstaltungen nicht der Fall gewesen. Nach der ersten Ablehnung der Anmeldung sei die Rechtsanwältin Bock für den Angeklagten aufgetreten. Sie habe ein verändertes Ablaufkonzept eingereicht. Es sollten nunmehr viele Redebeiträge dabei sein. Es sollte zu Anfang ca. eine Stunde geredet werden und zum Ende auch. Die Reden sollten ohne Musikuntermalung stattfinden. Es seien auch Themen benannt worden, die ernsthaft gewesen seien. Optisch sollte die Veranstaltung durch Transparente mit Forderungen der Aufzugteilnehmer den Versammlungscharakter demonstrieren. Man habe sich geeinigt, daß die Musik nicht übermäßig laut sein dürfe. Aufgrund der Redebeiträge sei man von einem Versammlungscharakter ausgegangen. Die Lautstärke sei auf 85 dB geregelt worden, es sei der Zug auf drei Wagen beschränkt worden. Damit habe nach Ansicht der Behörde die Veranstaltung insgesamt Versammlungscharakter gehabt. Er selbst sei bei der Veranstaltung vor Ort gewesen. Die Redezeiten seien gestoppt worden, es habe sich hier nur um 36 Minuten gehandelt. Vor Ort seien mehrere hundert Teilnehmer gewesen. Es sei im Verlauf des Aufzuges exzessiv Alkohol getrunken worden. Auf Vorhalt hat der Zeuge erklärt, den Alkohol hätten die Teilnehmer mitgebracht, auch hätten sie Gelegenheit gehabt, am Wegrand welchen zu kaufen. Transparente seien kaum zu sehen gewesen. Der Angeklagte habe zunächst mehrere auf den LKW-Motorhauben angebracht gehabt. Dadurch sei jedoch die Kühlung beeinträchtigt worden, und sie hätten nicht dort bleiben können. Transparente seien von Teilnehmern mitgeführt worden, jedoch teilweise eingerollt. Außerdem seien ihm viele Totenkopfflaggen aufgefallen. Der Zug sei von Musik geprägt gewesen. Teilweise wurde künstlicher Nebel verblasen. Am Endplatz vor dem Roten Rathaus kurz vor 19.00 Uhr seien drei Lautsprecherwagen in Position gegangen. Die Leute hätten getanzt, manche hätten sich auf die Steintreppen vor dem Rathaus gesetzt. Von außerhalb seien Leute mit Bierkästen gekommen. Auf dem dritten LKW habe jemand eine Rede gehalten. Dabei sollte eigentlich keine Musik abgespielt werden bei der Abschlußkundgebung. Er sei zu dem dritten LKW hingegangen, der Angeklagte habe die Rede gehalten. Er habe sich jedoch nur auf seinen Vorredner bezogen, eigentlich hätte es sich um keine Rede gehandelt. Die Rede des Vorredners habe er jedoch nicht gehört. Auf Vorhalt hat der Zeuge bekundet, der Angeklagte sei wegen der Beanstandungen während des Aufzuges nicht von der Polizei angesprochen worden. Dies hätte taktische Gründe gehabt. Er habe den Angeklagten während der gesamten Versammlung gesehen, ob der Angeklagte einen festen Platz gehabt habe, wisse er jedoch nicht. Daß der Angeklagte Alkohol ausgeschenkt hätte, sei ihm nicht bekannt. Die Anzahl der Reden sei für ihn nicht maßgeblich, er habe sie sich nicht notiert. Er könne nicht sagen, ob die angegebene Anzahl der Redner mit den tatsächlich vorhandenen übereinstimmte. Er könne nur sagen, daß die angegebenen Redezeiten nicht eingehalten wurden. Es sei jedoch mit der Rechtsanwältin Bock besprochen gewesen, daß die Redebeiträge nicht wesentlich geändert werden dürften. Auf Vorhalt hat der Zeuge weiter bekundet, bei der Abschlußkundgebung habe er nur eine Rede gehört. Wären es mehrere Reden gewesen, hätte er sie hören müssen. Ob während der Rede des Angeklagten bei der Abschlußkundgebung von dem LKW Musik gespielt wurde, von dem aus der Angeklagte geredet hatte, wisse der Zeuge nicht.

Nach den obigen Feststellungen war der Angeklagte freizusprechen.

Zunächst ließ sich nicht feststellen, daß der Angeklagte entgegen dem Bescheid des Polizeipräsidenten über die Genehmigung der Veranstaltung alkoholische Getränke zum Ausschank gebracht hatte.

Weiter kann nicht davon ausgegangen werden, daß der Angeklagte mit der Unterschreitung der angegebenen Redezeiten wesentlich vom Veranstaltungsplan abgewichen ist. Tatsache ist, daß die Reden wie angemeldet gehalten wurden. Daß der Zeuge H. bei der Abschlußveranstaltung nur die Ansprache des Angeklagten gehört hat, andererseits jedoch vorträgt, dieser habe sich auf seinen Vorredner bezogen, ergibt bereits, daß zuvor eine andere Rede gehalten worden sein müßte. Maßgeblich für den Versammlungscharakter ist der Umstand, daß überhaupt Reden zu den angemeldeten Themen gehalten wurden. Da dies der Fall ist, kann nicht von einer wesentlichen Abweichung der Anmeldung bzw. der bei der Anmeldung angegebenen Umstände ausgegangen werden.

Daß der Angeklagte für die Überschreitung der Schallgrenze von 85 dB zu zwei verschiedenen Zeitpunkten von zwei verschiedenen LKW verantwortlich gewesen sei, kann nicht angenommen werden. Der strafrechtliche Begriff des Verschuldens ist hier insoweit nicht dem verwaltungsrechtlichen Begriff des Verantwortlichseins gleichzusetzen. Wie der Zeuge F. ausgeführt hat, seien unmittelbar nach den beiden Messungen die jeweiligen DJ zur Rede gestellt worden. Sie hatten dieses Verhalten nicht wiederholt. Dem Angeklagten wurde jedoch zu beiden Zeitpunkten dieser Vorwurf nicht mitgeteilt. Dies hat der Zeuge F. bestätigt. Der Angeklagte war jedoch als Veranstaltungsleiter vor Ort, dies hat wiederum der Zeuge H. bestätigt. Es konnte auch nicht festgestellt werden, daß vom Angeklagten aus irgendeine Art Anweisung gegeben worden wäre, wonach die Grenzen von 85 dB hätten überschritten werden sollen. Wenn davon ausgegangen wird, daß bei einer Anzahl von 50 bis 70 Messungen nach den Bekundungen des Zeugen F. lediglich zu zwei Zeitpunkten ein leichtes Überschreiten der Meßgrenzen festgestellt wurde, was dem Angeklagten nicht einmal mitgeteilt wurde, kann dem Angeklagten dies nicht als persönliches Verschulden angelastet werden.

Nach allem war der Angeklagte mit der gesetzlichen Kostenfolge des § 467 StPO freizusprechen.